Überfall am Bahnhof Roßlau: Neue Ermittlungen gegen Lina E.

Laut einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau führt der Generalbundesanwalt neue Ermittlungen gegen die Leipzigerin sowie zwei mögliche Mittäter. Der Tatvorwurf lautet: versuchter Mord. Hintergrund ist ein Überfall auf vier Teilnehmer einer rechtsextremen Kundgebung am Bahnhof Roßlau am 19. Januar 2019.Das Dokument tauchte erstmals am Mittwoch auf dem rechten Twitter-Kanal „Dokumentation Linksextremismus“ auf. Offenbar handelt es sich dabei um einen Brief, der einem der vier Opfer zugestellt wurde: Der Neonazi Alexander W. aus Wurzen. W. engagierte sich zuvor bei den Jungen Nationalisten, der Jugendorganisation der ehemaligen NPD. Neue Verdächtige und alte Bekannte. In dem Brief informiert die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau den Geschädigten W. über die Einstellung des Verfahrens wegen versuchten Mordes, da die Generalbundesanwaltschaft (GBA) den Fall übernehme. Der Grund sei eine neue Verdächtige, gegen die die GBA ohnehin bereits ermittle.

Erkan Zünbül, der Leipziger Anwalt von Lina E., will den Vorgang öffentlich nicht kommentieren. Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau hingegen bestätigte die Echtheit des Schreibens gegenüber der „LVZ“. Die Bundesanwaltschaft schwieg und erklärte, sich „grundsätzlich nur im Falle von Festnahmen oder Anklagen“ zu Ermittlungsverfahren zu äußern.

Alexander W. erlitt bei dem Überfall in einer Bahnhofsunterführung im Ortsteil Roßlau die schwersten Schäden seiner Gruppe. Fotos zeigen ihn mit blutüberströmtem Gesicht, später mit genähter Kopfhaut. Laut Bericht des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt 2019 griffen ihn sechs Vermummte „unter Einsatz eines Hammers, eines Schlagrings und eines Totschlägers“ an und nahmen den „Tod der Geschädigten zumindest billigend in Kauf“. Zwei der vier Tatopfer kamen stationär ins Krankenhaus.

Zuvor hatten die Gruppe anlässlich des 74. Jahrestages der Bombardierung der Stadt Magdeburg in deren Innenstadt an einem „Trauermarsch“ teilgenommen. Eine Woche später zogen 60 Mitglieder der rechten Szene unter dem Motto „Versuchter Mord – wir fordern Aufklärung“ durch Roßlau. Angemeldet hatte die Demonstration eines der Opfer des Überfalls. Der Vorfall erinnert an eine Tat, für die Lina E. dieses Jahr vor dem Dresdner Oberlandesgericht verurteilt wurde. Damals überfielen E. und einige andere am Bahnhof Wurzen ebenfalls Demonstranten, die sich auf dem Rückweg eines rechtsextremen Gedenkmarsches in Dresden befanden.

Der neben Lina E. zweite Tatverdächtige Johann G. gilt als Drahtzieher vieler Straftaten, für die Lina E. im Mai vor dem Oberlandesgericht verurteilt wurde. Das Bundeskriminalamt (BKA) stuft ihn als „linksextremistischen Gefährder“ ein. Im März 2021 wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen, seither gilt er als untergetaucht. Strafverfolgungsbehörden fahnden mit Porträtfotos an Bahnhöfen deutschlandweit nach G.

Der dritte Verdächtige, der Berliner Tobias E., ist seit Februar in Ungarn inhaftiert. Damals beteiligte er sich mit sechs weiteren deutschen Autonomen – darunter laut Ermittlungsbehörden auch Johann G. – an Angriffen auf Teilnehmer am „Tag der Ehre“, bei dem sich jährlich Rechtsextremisten aus aller Welt teils in Nazi-Uniformen in Budapest treffen. Im März ließ die Generalstaatsanwaltschaft Dresden wegen der Angriffe Wohnungen in Leipzig-Connewitz durchsuchen.

Lina E. lebt in leipzig und studierte seit 2014 im Bachelor, dann im Master Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Am 31. Mai wurde sie in Dresden zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ob ihr nun ein neues Verfahren droht – oder der untergetauchte Johann G. angeklagt wird – blieb am Donnerstag noch offen.